Autor und Journalist

Warum die fluiden Identitäten der Gegenwart in einer Welt der ständigen Selbstinszenierung so schwierig zu fassen sind

Man könnte sagen, die Identität der Gegenwart ist wie ein Spiegel, der in ständiger Bewegung ist – unaufhörlich flimmert und blitzt, sodass man nie genau weiß, was man sieht. Oder vielleicht, könnte man auch sagen, dass sie ein Chamäleon ist, das sich ständig neu erfindet, je nachdem, mit welchem Hintergrund es gerade konfrontiert wird. Und doch, was immer wir tun, der Versuch, dieses wankelmütige Gebilde zu fassen, bleibt eine unmögliche Aufgabe. Wer wir sind – so lautet die allgegenwärtige Frage – scheint immer wieder eine Antwort zu verlangen, die gerade dann entschlüpft, wenn man meint, sie zu haben.

Die Wahrheit ist, dass unsere Identitäten heute flüssiger sind als je zuvor, sie sind nicht mehr die festen Konstrukte, die sie einst zu sein schienen. Früher, in einer Zeit, die uns heute fast nostalgisch erscheinen mag, war Identität etwas, das in den Grenzen von Herkunft, Status, Beruf und Geschlecht verankert war. Man wusste, wer man war, weil man einer bestimmten Kategorie angehörte: der Arbeiter, der Akademiker, der Vater, die Mutter. Man lebte in einer Welt, in der die Frage nach dem „Wer bin ich?“ mit einer gewissen Sicherheit beantwortet werden konnte, auch wenn die Antwort natürlich nie ganz einfach war. Doch heute? Heute scheint sich diese Frage von einer ständigen Flut aus Selbstinszenierungen, Social-Media-Postings und modischen Begriffen zu überfluten. Die Identität, die wir uns zuschreiben, wird nicht mehr nur von den sozialen Gegebenheiten bestimmt, sondern auch von der Art und Weise, wie wir uns selbst darstellen – oder uns von anderen darstellen lassen.

In einer Zeit, in der alles sichtbar ist und in der jede Handlung, jeder Gedanke, jede Meinung ins Netz entlassen wird, bleibt die Frage, wer wir sind, ein fließendes Element. Da sind die Instagram-Profile, die ständig aktualisierten Facebook-Statusmeldungen und die Twitter-Tiraden, die uns nicht nur einen Einblick in die Gedanken anderer geben, sondern vor allem einen permanenten Einblick in unsere eigenen. Wir sind ständig damit beschäftigt, uns darzustellen, zu inszenieren, uns in verschiedenen Rollen zu präsentieren. Der eine Moment sind wir der aktive, moderne Denker, der sich kritisch mit den gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzt, der nächste Moment der gut gelaunte Reisende, der seinen Urlaub in der Sonne feiert. Und all das in einem ununterbrochenen Strom, der keine Pause kennt.

Die Herausforderung dabei: In diesem ständigen Fluss von Selbstinszenierungen verlieren wir den festen Bezugspunkt, den wir für unsere Identität früher benötigt hätten. Was bedeutet es, authentisch zu sein, wenn Authentizität so häufig zur Performance wird? Der Philosoph, der soziale Kritiker, der von der Gesellschaft verlangte Individuum – all diese Rollen und mehr scheinen in einer nie endenden Rotation zu kreisen, in der jede neue Wendung das Bild, das wir von uns selbst haben, nur noch mehr verwischt. Man könnte sagen, dass die Identität in der digitalen Ära zu einer Art von Spielzeug geworden ist – ein zerbrechliches, aber schillerndes Spielzeug, das man ständig neu zusammensetzen muss, wenn es einmal heruntergefallen ist.

Dies ist keine einfache Kapitulation vor der Moderne oder ein herablassendes Urteil über die Vergnügungen, die uns das digitale Zeitalter beschert hat. Die Herausforderung, die in dieser fluiden Identität steckt, ist eine der existenziellen Art. Wir leben in einer Gesellschaft, die mehr als je zuvor von der Selbstdarstellung abhängt – von der Art und Weise, wie wir uns selbst in der Welt positionieren, und wie wir die Reaktionen darauf gestalten. Wo es früher klare Linien gab, gibt es heute nur noch verschwommene Grenzen. Und diese Grenzen sind in der Lage, sich mit der Geschwindigkeit der neuesten App zu verschieben. Was gestern noch als authentisch galt, kann heute bereits als veraltet oder gar als „nicht mehr wahr“ betrachtet werden. In dieser Welt ist das Festhalten an einer Identität eine Illusion, die sich in der Luft auflöst, sobald man sie zu fassen versucht.

Eine weitere Dimension dieses Phänomens ist die Wechselwirkung zwischen dem Bild, das wir von uns selbst haben, und dem Bild, das uns die anderen zuschreiben. Wer wir sind, ist nicht mehr nur das, was wir selbst für uns beanspruchen, sondern auch das, was die Gesellschaft uns zuschreibt. Diese Fremdzuschreibung hat sich auf erstaunliche Weise verflüssigt und vermischt sich mit unserer eigenen Inszenierung. Was der andere von uns denkt, hat längst einen Einfluss darauf, wie wir uns selbst sehen. Man könnte sagen, wir sind alle in einem ständigen Dialog mit einer unsichtbaren Masse von Beobachtern, die das Bild, das wir von uns selbst entwerfen, beeinflussen und gleichzeitig mitgestalten.

Der Einfluss der digitalen Welt hat diese Dynamik besonders stark verändert. In der Vergangenheit war es relativ klar, welche äußeren Faktoren unser Selbstbild prägten: die Familie, der Arbeitsplatz, die Freunde. Heute ist das Bild, das wir von uns selbst haben, stark von der digitalen Welt und ihrer Kultur der ständigen Sichtbarkeit geprägt. Jeder postet, jeder teilt, jeder kommentiert. Jeder Moment wird in eine Währung von Bildern und Wörtern übersetzt, die einen sofortigen Wert besitzen. Wir sind in einer Welt, die die ständige Produktion von „Inhalten“ erfordert – Inhalte, die nicht nur unsere Gedanken und Handlungen widerspiegeln, sondern auch die Art und Weise, wie wir uns selbst präsentieren. Und hier liegt der Punkt: In einer Welt, in der unser Bild immer wieder produziert wird, wo bleibt da noch der Raum für die eigentliche Identität?

Doch vielleicht liegt gerade in der scheinbaren Fließfähigkeit der Identität eine große Chance. Der Begriff der Identität war immer mit einer Art von Festigkeit verbunden – einem unerschütterlichen Kern, der nicht in Frage gestellt werden konnte. Die Auflösung dieser festen Begriffe könnte uns jedoch dazu einladen, die Vorstellung von Identität neu zu denken. Vielleicht ist es an der Zeit, zu akzeptieren, dass wir niemals nur „einer“ sind, sondern dass Identität mehr ein Prozess des ständigen Werdens ist als ein statischer Zustand. Die ständige Umgestaltung unserer Identität könnte eine Möglichkeit sein, die eigenen Grenzen immer wieder neu zu definieren – ein kreativer Akt, der uns in der ständigen Neuverhandlung von uns selbst immer wieder herausfordert.

In der digitalen Welt von heute – wo alles zugleich präsent und doch nie wirklich greifbar ist – bleibt die Identität ein Spiel, das wir ständig neu spielen müssen. Und dabei sind wir nicht allein. Jeder von uns ist in diesem Spiel ein Schauspieler, der sich immer wieder neu erfindet, um im endlosen Strom der Selbstinszenierung nicht unterzugehen. Aber die Frage bleibt: Wer sind wir, wenn wir alle diese Rollen ablegen? Und vielleicht ist das die eigentliche Herausforderung der Gegenwart – zu lernen, dass wir nicht immer wissen müssen, wer wir sind, um zu existieren.

Zur Person

Der studierte Soziologe begann seine journalistische Laufbahn in den turbulenten Zeiten des Deutschen Herbstes. Diese Erfahrungen weckten in ihm ein tiefes Misstrauen gegenüber Ideologien. Als Lektor, freier Autor und Redakteur für eine Vielzahl von Medien trug er seinen Teil zur deutschen Medienlandschaft bei. Seine Beiträge reichen von Buchbesprechungen und Glossen bis hin zu scharfsinnigen Beobachtungen des politischen und gesellschaftlichen Alltags. Schmitts Texte zeichnen sich durch eine Mischung aus tiefgründiger Reflexion und präziser Formulierung aus – stets kritisch und mit einem klaren Blick auf die Welt.

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